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Markus Kupferblum

Plädoyer für das Sommertheater, erschienen im Mai 2022 in den "Salzburger Nachrichten"

Plädoyer für das Sommertheater

Der große und unbegreiflicherweise weitgehend vergessene deutsche Dichter Max Hermann Neiße schrieb in seinem „Plädoyer für das Theater“:

„Das Theater lebt, weil es ein wesentlicher, zauberhafter, dem Spieltrieb, dem Exhibitionismus und der Bekehrungsleidenschaft der Menschen entsprechender Faktor ist, in seiner seelischen, sprachlichen, plastischen Fülle durchs Kino nicht ersetzbar, in seiner unmittelbaren, vom leibhaftigen Menschen zum leibhaftigen Menschen gehenden, vieldimensionalen Wirkung noch unerreicht, und es wird weiter leben, solange wir es lieben und durch unsere Liebe ihm neues Blut, Lebenskraft, Lebensüberfluß geben!“

Schöner kann man kaum formulieren, was Theater dem Menschen ist und sein kann, und fast unglaublich scheint es, dass dieser Text aus dem Jahre 1926 stammt und nun fast 100 Jahre alt ist. Er prophezeit hellsichtig, warum selbst Menschen, die heute durch Streaming Dienste aller Art in ihren Hosentaschen stets abertausende Filme mit sich führen, trotzdem nicht müde werden, alle erdenklichen Anstrengungen auf sich zu nehmen, Theater zu spielen, zu ermöglichen und dessen Aufführungen beizuwohnen.

Der Mensch braucht Geschichten, das wissen wir längst.

Mythen helfen uns, mit dem Unsagbaren, dem Beängstigendem und dem Unausweichlichem umzugehen. Sie erzählen von Geburt, Liebe, Krankheit und Tod. Die Griechische Tragödie entstand aus der Idee, auf der Bühne Dinge auszusprechen, die feine Leute aus der Fassung bringen würden und sie lehrt uns dabei, wie wir unserem Schicksal begegnen sollen. Und wenn uns die Griechische Tragödie also lehrt, wie man lebt, so lehrt uns die Komödie wohl, wie man überlebt. Durch das Lachen über die Ungeschicklichkeit und das Unglück der anderen, lernen wir, wie man trotz alledem seine Würde bewahrt - und schließlich bemerken wir, dass wir die ganze Zeit über uns selbst gelacht haben.

Die Commedia dell’Arte zeigt uns in all ihren Erscheinungsformen, wie wir wenigstens für einen kurzen Augenblick die gesellschaftliche Hierarchie umdrehen und damit für einen kurzen Moment gerechte Verhältnisse herstellen könnten. Sie zeichnet so die Utopie einer besseren Welt, die es nie geben wird, weil jeder Mensch eine andere Wahrheit und deshalb auch eine andere Gerechtigkeit besitzt - und sich überdies, wie wir wissen, letzten Endes doch immer wieder der Stärkere mit seiner subjektiven Weltsicht durchsetzt.

So heilt uns die Komödie von unseren täglich aufs Neue erlittenen Schmerzen und schenkt uns mit einem Happy End die Hoffnung, dass auch für uns am Ende alles gut wird - ansonsten erfinden wir uns so lange einen weiteren Akt, bis wir schließlich unser Glück erlangen, bevor der Vorhang endgültig und für immer fällt.

Im Theater geht es um nichts geringeres, als um unser Leben. Das wissen nicht nur die Menschen auf der Bühne, auch das Publikum spürt, dass ernste und große Themen abgehandelt werden, über die es lachen aber auch weinen kann.

Im Sommer, der Zeit der Erholung und Entspannung, ist der Mensch besonders empfänglich dafür, sich mit großen Fragen zu beschäftigen, die gewöhnlich im täglichen Arbeitsalltag, im Meer der vielen unaufschiebbaren Nebensächlichkeiten, ertrinken. Nach einem Heurigenbesuch vor der Vorstellung eines der zahllosen Sommertheater, die in ganz Österreich gespielt werden, erfreut man sich besonders gerne am unterhaltsamen Erkenntnisgewinn, geniesst die Nähe zu den Schauspielerinnen und Schauspielern und läßt sich bereitwillig darauf ein, alles zu glauben, was auf der Bühne behauptet wird.

Die Figuren scheinen wir seit ewigen Zeiten zu kennen, denn sie gehören zu uns, zu unserer Lebenswelt, egal, ob wir das Stück schon einmal gesehen haben, oder noch nie. Wir erkennen sie wieder. Es sind Menschen, die uns nahe sind, die wir mögen oder verabscheuen, und wir können sie in aller Ruhe beobachten, wie sie in unterschiedlichen Situationen reagieren. Hätte ich das genauso gemacht? Wäre ich auch so schlagfertig gewesen?

Fast ist man befreundet mit den Menschen auf der Bühne, die wir in der Pause hinter den billigen Kulissen beim Plaudern beobachten können und nach der Vorstellung am Nebentisch beim Essen belauschen. Wir können sogar einfach zu ihnen hinüberrufen und Komplimente machen. Es sind unsere Schauspieler, es ist unser Theater, weil es schließlich auch unser Leben ist - und sie spielen im Ort unserer Sommerfrische.

Obwohl Max Reinhardt meinte, nördlich der Alpen könne man kein Freilufttheater machen, gibt es mittlerweile Jahrzehnte alte Sommertheater Festivals, die aus ihrer Region nicht mehr wegzudenken sind, mit und ohne Regendach. Erfolgreich ziehen sie Sommer um Sommer ihr Publikum an, das im besten Sinne weiß, was es erwartet. Für alle ist etwas dabei.

Da gibt es die Festivals, die internationale Stars einladen und versuchen, den hochsubventionierten Bundestheatern den künstlerischen Rang abzulaufen; sie finden ihr betuchtes Publikum, das auch im Sommer die Hochkultur nicht missen möchte.

Der Großteil der Sommerfestivals bietet aber nichts geringeres, als das echte Volkstheater, das es womöglich nurmehr dort gibt. Es feiert auf zahllosen Bühnen seine immerwährende Blüte.

Schauspieler und Schauspielerinnen unterschiedlicher Theater und Theatertraditionen spielen gemeinsam auf der selben Bühne ohne jede Allüre witzige und kluge Geschichten, die sie ihrem Publikum schenken, großzügig und voller Spiellust, weil sie - manchmal im Gegensatz zu ihren fixen Engagements - ihre Rolle ohne Druck gestalten und niemandem etwas beweisen müssen. Sie geniessen die Nähe zum Publikum und die klaren Handlungsstränge der Geschichte. Sie spielen frei, amüsieren sich mit ihren Spielpartnern und geniessen, mitunter einmal etwas zu dick auftragen zu dürfen, wenn ihnen der Sinn danach steht. Sie finden „vom leibhaftigen zum leibhaftigen Menschen" den gemeinsamen Atem mit dem Publikum, das selbst wiederum genießt, nicht belehrt zu werden und sich von der Geschichte einfach bezaubern läßt. Man spürt die Anwesenheit echter Menschen, läßt sich davon stimulieren und ist gleichzeitig im Hier und Jetzt, aber auch, ganz bei sich, in der Zauberwelt des Theaters.

Manchmal gibt es Operetten, Musicals und sogar Opern unter freiem Himmel zu sehen, oft unter akustisch und technisch prekären Bedingungen, aber voller Leben und Begeisterung, die konventionelle Aufführungen an subventionierten Theatern allzuoft vermissen lassen. Und es sind nicht selten gerade diese Aufführungen, die Menschen zu diesen Kunstgattungen verführen. Niemand, der voller Melodien im Ohr nach einer Sommeroperette ins Auto steigt, stellt sich die Frage, ob dieses Genre nicht schon längst tot sei. Ja, so mancher Opernfan ist auf harten Zuschauerbänken bei drohendem Nieselregen in eine Decke gehüllt erweckt worden, als ihn eine Liebesszene zweier Sterbender berührte, wie ihn nie zuvor irgendeine andere Liebesszene berührt hat. So mancher Musical Fan hat als freiwilliger Helfer Tag um Tag die Kulissen eines Sommermusicals geschoben und so aus nächster Nähe seine Idole beobachtet, um von ihnen zu lernen.

Und wieviele unzählige Menschen spielen selbst Theater in Österreich!

Sie studieren die Stücke monatelang nach Feierabend im Hinterzimmer eines Gasthauses ein und setzen sich dem mitunter quälendem Schaffensprozeß mit Leidenschaft und Enthusiasmus aus. Sie selbst nähen die Kostüme, stellen die Kulissen her, bauen die Bühne, hängen die Scheinwerfer auf, entwerfen die Flugzettel und Plakate, kopieren und verteilen sie. Ihre Stücke werden dann im Sommer in Turnsälen, Pfarrheimen, Volkshochschulen, Gasthäusern, Pawlatschenbühnen, drinnen und draußen, wo auch immer man Theater spielen kann, aufgeführt.

Sie sind selbst die Schauspieler, stehen auf der Bühne, singen und tanzen. Sie organisieren die Technik, Publikumsdienste und Buffets. Es sind ihre Geschichten, die sie erzählen und allzu oft haben diese Gruppen ihr begeistertes Stammpublikum.

Nicht zu unrecht gehören diese Gruppen dem Genre „Amateur“ Theater an, dem großen Reich der „Liebhaber"! Und das vollkommen zu recht! Sie tragen unglaublich Wichtiges dazu bei, das Theater am Leben zu erhalten, schenken ihm ihre Zeit, ihren Enthusiasmus und ihre Geschichten. Es sind diese zahllosen Liebhaber landauf, landab, die, wie Max Hermann Neiße es ersehnt, dem Theater durch ihre Liebe neues Blut, Lebenskraft, Lebensüberfluß geben.

Und mit dieser neuen Lebenskraft gestärkt, mit dem frischen Theaterblut der zahllosen unterschiedlichen Festivals vom Burgenland bis Vorarlberg, dem Lebensüberfluß der unzähligen Sommertheater Aufführungen, gehen das Theater und sein Publikum erneuert und mit frischem Schwung in den nächsten Theaterherbst.