Markus Kupferblum
Sechs Szenen aus dem Paradies - Six scenes from paradise
1.SZENE
Wir sind in einem Vergnügungspark, der „Paradise“ heißt. Die Schlange und Eva gehen neben einander, die Schlange ist sehr charmant, Eva etwas überwältigt. Es beginnt zu regnen.
SCHLANGE
Eva, komm, wir stellen uns hier unter!
Sie laufen zu einem kleinen Schuppen, wo ausrangierte und kaputte Wagen einer Hochschaubahn lagern.
SCHLANGE
Das wird ein richtiges Unwetter!
EVA
Ich habe Angst!
Es donnert heftig.
SCHLANGE
Du brauchst keine Angst zu haben. Ich kenne die Donner! Ich kenne sie alle persönlich!
Eva schaut ihn an. Sie scheint beeindruckt zu sein. Es blitzt. Sie erschrickt.
SCHLANGE
Und die Blitze, mit denen kann ich jonglieren! Schau!
EVA
Du bist wunderbar!
SCHLANGE
Du auch, Eva, und endlich sind wir einmal ungestört, endlich alleine! Endlich können wir ganz uns selbst gehören!
Die Schlange beginnt sich langsam Eva anzunähern.
EVA
Endlich!
Sie küssen einander und fallen langsam rücklings in einen dieser Wagen. Plötzlich unterbricht Eva.
EVA
Halt! Liebst Du mich eigentlich?
SCHLANGE
Aber natürlich meine kleine Eva, meine süße, zarte Eva, ich liebe Dich, ich liebe Dich mehr, als irgend etwas anderes in diesem Paradies. Alle Liebe, die mir mein Gott geschenkt hat, ist für Dich! Du leuchtest heller als alle Sterne für mich, Du bist frischer, als alle Quellen, unwiderstehlicher, als alle Früchte, und Du bist schöner, als der Liebe Gott!
EVA
Liebst Du mich wirklich?
SCHLANGE
Wie kannst Du noch fragen!
EVA
Wenn Du mich wirklich liebst, mußt Du mir den Apfel beschaffen!
SCHLANGE
Wie meinst Du das?
EVA
Den Apfel beschaffen, um ihn zu essen!
SCHLANGE
Ihn zu essen?
EVA
Ihn zu essen! Ich will das wissen, was nur er weiß!
SCHLANGE
Und deshalb willst Du ihn essen?
Eva nickt.
SCHLANGE
Gut. Du kriegst Deinen Apfel. Aber wie soll ich das nur machen? Der Apfel ist die verbotene Frucht!
EVA
Wie unsere Liebe!
SCHLANGE
Wie unsere Liebe?
Eva lacht.
SCHLANGE
Ich beschaffe Dir den Apfel.
2.SZENE
Adam kommt. Er sieht Eva mit der Schlange. Die Schlange verschwindet augenblicklich.
ADAM
Eva, ich habe Dich überall gesucht! Vorhin warst Du noch bei der Hochschaubahn und plötzlich warst Du weg. Ich habe schon Angst gehabt, Du seist verschwunden!
EVA
Ich war die ganze Zeit da! Mir war so schwindlig, ich habe aufhören müssen! Dann habe ich die Schlange getroffen und es hat zu regnen begonnen.
ADAM
Paß mit der Schlange auf! Von ihr hört man schreckliche Geschichten!
EVA
Keine Angst, ich weiß schon, was ich tue. Komm, laß uns gehen!
Sie nimmt ihn zärtlich und sie gehen weg.
3. SZENE
Der Apfel sitzt in einem kleinen Büro mitten im Vergnügungspark. Es ist sehr laut. Bunte Lichter erhellen seinen Raum. Er sitzt an seinem Schreibtisch mit einer kleinen Schreibmaschine. Er schreibt einige Worte, dann zieht er das Papier aus der Walze und wirft es weg.
APFEL
Es ist die Hölle! Man kann keinen klaren Gedanken fassen! Der Lärm, die Scheinwerfer! Und wo soll ich anfangen? Glauben Sie, das ist so einfach? Stellen Sie sich vor, Sie kommen auf die Welt als Apfel, als Frucht, als verbotene Frucht, weil der Baum, auf dem Sie aufgewachsen sind, "Baum der Erkenntnis“ heißt! Baum der Erkenntnis. Und jetzt will keiner etwas mit Ihnen zu tun haben, weil jeder denkt, Sie wissen etwas, was die anderen nicht wissen. Aber wissen Sie, was das Schlimmste ist? Ich weiß nicht einmal, ob das stimmt, weil ich gar nicht wissen kann, was die anderen wissen, also weiß ich nicht, ob ich mehr weiß, als die anderen, und falls ich mehr wissen sollte, als die anderen, wüßte ich schon gar nicht, WAS es ist, was die anderen nicht wissen, sondern angeblich nur ich weiß! Aber wie findet man das heraus?
Und dann habe ich dieses Büro bekommen, und keiner kann mir sagen, was ich hier machen soll, weil jeder sagt: "Du weißt es ohnehin besser!“
Und hier ist es so laut, daß man an gar nichts denken kann, und mir fällt jetzt nicht einmal die Adresse vom Lieben Gott ein, wo ich mich endlich entschlossen habe, einen Beschwerdebrief zu schreiben! Ich werde mich beschweren über die Rolle, die er mir zugedacht hat.
Ich will ein besseres Schicksal! Ich will nicht mehr gemieden werden von den anderen. Ich will echte Freunde. Ich will leben, wie alle anderen!
Und jetzt sitze ich da im Paradies und weiß nicht, wo Gott wohnt.
Es ist die Hölle!
Die Schlange betritt das Büro, nachdem sie vorsichtig an die Tür geklopft hat.
SCHLANGE
Gesegneten guten Tag, lieber Apfel, ich hoffe, ich störe nicht allzusehr!
APFEL
Kommen Sie nur weiter! Womit kann ich dienen?
SCHLANGE
Ich habe eine Botschaft zu überbringen, nur jetzt zur Bürozeit...es ist nämlich eine private Botschaft, eine persönliche Nachricht!
APFEL
So? Von wem?
SCHLANGE
Es ist die wunderbarste Frau, die Gott jemals erschaffen hat, die Schönste, die Beste, die Erste und die Einzige.
Wenn sie geht, und das tut sie auf zwei Beinen, dann wiegen ihre Hüften wie Ähren im Wind, wie die Wellen des Nils im kräftigen Südwind, der den Schlamm vorwärtspeitscht, wenn sie spricht, verstummen die Vögel und die Natur hält den Atem an, lauschend, dem Klang ihrer Stimme, und wenn sie Dich ansieht, dann wechselst Du die Farbe, wie alle Chamäleons auf einmal und dein Herz springt so hoch, daß du glaubst, der Sonne in die Augen zu schauen, und wenn sie dich berührt, packt sie Deine Seele und fliegt mit Dir um die Welt.
APFEL
Wer ist das?
SCHLANGE
Es ist Eva. Die, die das Leben schenkt.
APFEL
Was kann sie von mir wollen? Ich bin der Apfel, die verbotene Frucht, und ich sag Dir ganz ehrlich: vielleicht bin ich ganz süß im ersten Augenblick, aber auf die Dauer bin ich wirklich nicht sehr aufregend, im Grunde genommen eigentlich ziemlich langweilig.
SCHLANGE
Aber Du weißt doch so viel! Du weißt doch alles, das letzte Geheimnis der Welt!
APFEL
Siehst Du, da sind wir genau beim Problem, das ist genau der Punkt, das kann ich Dir ganz genau...
SCHLANGE
Und deshalb mußt Du sie treffen! Gemeinsam seid ihr unschlagbar! Die Sinnlichkeit des Lebens, kombiniert mit Deinem Wissen! Dann seid ihr schöner, als jede Blume, gefährlicher, als jedes Raubtier und genauso mächtig, wie Gott!
APFEL
Und genau deshalb heiße ich: Die verbotene Frucht, und deshalb...
(Er zeigt auf den angefangenen Brief)
SCHLANGE
Und deshalb bist Du einsam, alleine und ungeliebt, obwohl da draußen das Leben schillert und glänzt, wie ein Korallenriff in allen Farben und Formen!
Der Apfel beginnt zu weinen.
SCHLANGE
Komm‘ mit! Verändere etwas! Ab heute wird alles anders!
Er nimmt den Apfel und führt ihn aus dem Zimmer.
4. SZENE
Eva ist im Spiegelkabinett. Sie schaut sich an und lacht.
EVA
Wie häßlich ich bin! Ein kleines Stück Metall, und schon wird aus der unwiderstehlichen Eva eine häßliche, gestauchte, alte Frau. Adam! Komm doch herein! Hier lernst Du mich kennen! So schaue ich aus!
Adam kommt herein. Er starrt Eva‘s Spiegelbild an.
ADAM
Wer ist das?
EVA
Das bin ich. Deine Eva. Die Frau, die Dir zur Seite steht, die Dir zur Seite gestellt wurde. Aus Deiner Rippe geschaffen. Komm zu mir!
Adam stellt sich an ihre Seite. Er sieht sein Spiegelbild neben ihrem.
ADAM
Das ist ja scheußlich!
Eva lacht. Ihr Spiegelbild verzerrt sich furchterregend.
ADAM
Ich finde Dich immer noch schön. Mit Dir möchte ich alt werden!
EVA
Du spinnst!
ADAM
Auch wenn wir eines Tages so aussehen! Die verrunzelten, gestauchten Urväter des Menschengeschlechts mit dem glücklichsten Lachen, das die Welt je gesehen hat, nach einem langen Leben an Deiner Seite.
EVA
Jetzt komm einmal da hinüber!
Sie nimmt ihn und zieht ihn zu einem anderen Spiegel.
5. SZENE
Die Schlange kommt herein. Sie geht suchend herum.
SCHLANGE
Eva! Wo bist Du? Ich habe Dich überall gesucht! Ich habe Dir den Apfel mitgebracht!
(leise)
Aber sei‘ nicht enttäuscht, wenn Du ihn siehst: Das Wissen der Welt sieht nicht gerade umwerfend aus.
Er ist nicht wirklich sehr verführerisch. Außerdem ist er schlecht gelaunt! Eva, wo bist Du?
Die Schlange sieht Eva‘s Spiegelbild.
SCHLANGE
Oh, Verzeihung! Ich dachte, Sie wären Eva und wir wären alleine! Haben Sie vielleicht eine junge Dame gesehen?
EVA
Kaum jünger und schöner als ich selbst.
SCHLANGE
Dann habe ich Sie wohl verwechselt.
EVA
Ich glaube kaum.
SCHLANGE
Bei allem Respekt, das weiß ich sicher!
EVA
Keine zweite Eva gibt‘s als mich!
SCHLANGE
Das ist nicht möglich! Meine Eva ist jung und schön!
EVA
Das bin ich auch, aber scheinbar nicht für Dich! Deine Liebe ist so dünn, wie ein Stückchen Blech, so dünn, wie dieser Spiegel! Dreh‘ Dich um!
Die Schlange dreht sich um und sieht ihr eigenes Spiegelbild, das schrecklich aussieht.
SCHLANGE
Oh, Zeit, was hast Du mir nur angetan? Wir hatten doch einen Packt! Die ewige Blüte meiner Schönheit! Vorbei die Jugend, die Verführungskraft, vorbei das grenzenlose Leben! Oh, Zeit, was hast Du bloß aus mir gemacht?
6. SZENE
Der Apfel kommt herein.
APFEL
Schlange, wo bist Du? Du hast gesagt, Du seist gleich wieder da! Mit ihr, mit Eva, der lebendigen Hoffnung, der Einbahnstraße aus meinem Büro, der Erlöserin, der, die das Leben schenkt...
Eva kommt von hinten und sieht das Spiegelbild des Apfels, das wunderschön ist.
EVA
Oh, junger Mann, Abbild meines schönsten Traumes, wer bist Du? Wenn Dein Körper Deine Seele spiegelt, sei augenblicklich mein! Zauber meines Herzens, sprich zu mir!
APFEL
Äh, Verzeihung, Fräulein, ich habe mich wohl getäuscht!
EVA
In wem? In Dir? In mir?
APFEL
Äh, nein, ich sprach gerade zu der Schlange!
EVA
Die Schlange willst Du, Jüngling? Hier siehst Du ihr wahres Gesicht!
Sie zeigt ihm das Spiegelbild der Schlange.
APFEL
Das ist ja schrecklich! Wie konnte ich ein Wort ihr nur glauben?
EVA
Jetzt sag‘ schon, wer bist Du?
APFEL (IM DUETT)
Der Apfel bin ich, die verbotene Frucht! Genauso klein und dick wie Du! Du, Du, Du!
EVA (IM DUETT)
Eva bin ich, die das Leben schenkt, genauso jung und schön wie Du! Du, Du, Du!
Sie schlafen miteinander.
DIE STIMME VON GOTT
(über den Lautsprecher)
Das Paradies schließt in fünf Minuten. Bitte konsumieren Sie ihre letzte Fahrt.
Eva ist erschöpft. Der Apfel liegt tot am Boden. Er ist dick und rund und rot. Eva zittert. Adam kommt herein. Er trägt die Schlange am Arm.
ADAM
Die Schlange hat sich umgebracht. Vor meinen Augen. Sie ist vor Abscheu gestorben. Es hat ihr vor sich selbst geekelt.
EVA
Adam, unternehmen wir noch etwas, ich kann jetzt noch nicht schlafen gehen. Das Paradies schließt gleich. Laß‘ uns woanders weiterfeiern.
Adam legt die Schlange auf den
Boden, nimmt Eva an der Hand und verläßt mit ihr das Paradies. Hinter ihnen wird das Tor geschlossen.
ENDE
©Markus Kupferblum
1997